Tag: 2. September 2011

1938

Und dann, wenn man sich für seinen eigenen Geschmack lange genug, aber für den Dozenten noch nicht lange genug, mit Roland Barthes und Umberto Eco beschäftigt hat, dann kommt die Erkenntnis. Man steigt hinab auf den Boden der Erkenntnis. Der liegt – in meinem Fall – auf Fußhöhe und zwar dort wo dieses uralte Fotoalbum meiner Großeltern liegt. Man blättert es durch und findet Familiengeschichte.

Ein Hochzeitsfoto aus dem Jahr 1938. Abgesehen von der schnittigen Frisur meines Großvaters transportiert das Bild für mich keinerlei Nazisymbolik, was mich etwas, nun ja, irritiert. In meiner Vorstellung war dieses Land zu dieser Zeit so durchzogen von seinen politischen Machthabern, dass auch Hochzeiten mit dieser “Ästhetik” aufgeladen werden mussten. Diese war es nicht. Ich betrachte das Bild mit dem Wissen, dass ich mir von Herrn Barthes und Herrn Eco geklaut habe und beginne zu verstehen, was Barthes damit meint, dass die Fotografie vielleicht als einziges Medium überhaupt die Realität abbilden kann, wenn auch nur die Realität des vergangenen Moments.

Und wieder kommt mir in den Sinn, dass die Welt bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts nicht schwarz-weiß war. Trotzdem kann ich das nicht akzeptieren. Die Welt vor den 50ern war schwarz-weiß, die Menschen lebten schwarz-weiß (oh, grandiose Metapher, wenn sie mich fragen). Was sehr praktisch gewesen sein muss, man sah auf Fotos nicht, was für Hautunreinheiten die Menschen hatten. Schwarzweißfotografien verdecken Hautunreinheiten nämlich sehr viel besser als das Farbfotografien tun.

In dem Bild liegt so viel und mit heutigem Wissen betrachtet, fragt man sich, warum die beiden lachen. Blöde Frage, es ist der Tag ihrer Hochzeit und sie lachen beide so verschmitzt. Der eine zieht die Mundwinkel nach links, die andere nach rechts. Wunderschön. Sie wissen noch nichts vom zweiten Weltkrieg, vom geteilten Deutschland und doch sieht es zu dieser Zeit schon extrem finster in Deutschland aus (unglaublich untertriebene Aussage). Und man fragt sich, was haben sie mitbekommen, warum haben sie nichts getan?

Fragen, die sie mir nicht mehr beantworten können.